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Kategorien: AktuellesThemen & Trends

KI schreibt – Der Mensch bleibt

KI schreibt – Der Mensch bleibt

Gedanken zu Literalität und künstlicher Intelligenz

Gastbeitrag von Marion Döbert

Der Artikel wurde zuerst am 30.10.2023 auf der Website des Bundesverbands Alphabetisierung und Grundbildung e.V. veröffentlicht. Wir danken Frau Döbert für die Erlaubnis, ihn hier ebenfalls zu veröffentlichen!

Jede Pressemeldung zum Weltalphabetisierung am 8. September enthält die erforderlichen Sätze: Über 6 Millionen deutschsprachige Erwachsene können so wenig lesen und schreiben, dass sie die schriftsprachlichen Anforderungen in Alltag und Beruf nicht oder kaum bewältigen können. Bis vor einigen Jahren wurden diese Menschen „Funktionale Analphabeten“ genannt, in der Gegenwart wird die Begrifflichkeit „Personen mit geringer Literalität“ bevorzugt. Das erscheint weniger diskriminierend, ist aber missverständlicher, da leicht verwechselbar mit Menschen, die schlichtweg mit Literatur nichts am Hut haben. Wie auch immer diese Zielgruppe in journalistischen Sensationsmeldungen oder in bildungspolitischen Statements genannt wird, sie umfasst Menschen, die ganz besonders auf digitale Hilfsmittel angewiesen sind, um sich durch die Welt der Schriftsprache navigieren zu können. Zugleich sind sie diejenigen, die am leichtesten in digitale Fallen stürzen können. Erst recht, wenn sie ab sofort oder demnächst ihr Heil in ChatGPT und anderen Wie-von-selbst-Schreibprogrammen suchen.

Richtig ist: So schnell wie Künstliche Intelligenz schreibt kein Journalist, kein Schriftsteller, kein Sachbearbeiter und erst recht kein Mensch, dem die Schriftsprache in Schulzeit und Gegenwart stets ein Horror und scheinbarer Beweis seiner Unfähigkeit und seines Versagens war.
Richtig ist aber auch: Hinten kommt nur das raus, was vorne eingefüttert wird. Und das in zweifacher Hinsicht.

Künstliche Intelligenz in der allgemein zugänglichen Form greift inzwischen auch auf das Internet zu, berücksichtigt also auch Wissensbestände, die in der Menschheitsgeschichte entstanden und – wenn auch nie vollkommen – in Google und vergleichbaren Systemen hinterlegt und abrufbar sind. Dennoch müssen Texte von ChatGPT kritisch gelesen werden (können), denn in das riesige Datenkonvolut gehen auch nicht verlässliche oder falsche Daten mit ein.
Interessant wäre dabei zu wissen, wer eigentlich – auch zukünftig – darüber entscheidet, welche Daten des Weltwissens eingefüttert werden und welche nicht. Prompt Engineers, also diejenigen Personen, die die Befehle (Prompts) für die jeweilige KI-Nutzung konfigurieren oder eingeben, sind sicher nur entwickelnde Ausführende, aber nicht die Entscheider über Zulassung oder Zensur von Wissensdaten im Hintergrund der KI.

Was hinten rauskommt, hängt aber nicht nur von dem Datenfundament ab, sondern auch von den Prompts selbst. Das Phänomen ist allseits bekannt von Sucheingaben im Internet. Je mehr Präzision bei der Eingabe, desto mehr Qualität bei der Ausgabe des Suchergebnisses. Präzision setzt jedoch voraus, Vorwissen über das Themenfeld zu besitzen, die Fähigkeit in Kategorien und Oberbegriffen zu denken und dann das Ganze auch noch schriftsprachlich formulieren und eingeben zu können. Zwar spielen Rechtschreibfehler in digitalen Systemen nur noch eine untergeordnete Rolle – auch ChatGPT liefert entsprechende Informationen, wenn Gsundhet eingegeben wird –, aber wer das Schreiben lieber vermeidet oder gar nicht beherrscht, vermeidet auch eher komplizierte Prompts. Wer die Eingaben nicht präzisieren kann, erhält Schablonenergebnisse.

Doch gerade die Ergebnisse, die von KI geliefert werden, bedürfen der Kontrolle, da schon alleine das zugrundeliegende Datenfundament voller Risse und Stereotype ist. Kontrolle setzt aber wiederum Wissen über das Themenfeld voraus. Ohne wenigstens basale Kenntnisse einer Fremdsprache kann beispielsweise eine Übersetzung nicht in ihrer Richtigkeit oder Qualität beurteilt werden. Blauäugig wird ein Text akzeptiert – und womöglich in wichtigen Kommunikationsabläufen eingesetzt –, der voller missverständlicher oder falscher Formulierungen sein kann. So ist es zwar leichthin möglich, sich von ChatGPT ein Entschuldigungsschreiben an die Schule für das erkrankte Kind schreiben zu lassen, wer es aber nicht nachlesend kontrollieren kann, schickt womöglich ein Musterschreiben an die Schule, in dem man zuvor hätte auswählen müssen, ob es sich bei dem Entschuldigungsgrund um starke Bauchschmerzen, Masern, eine Stichallergie oder um einen Unfall gehandelt hat.

Nicht nur die Eingabe von Prompts und die Kontrolle des KI-Produkts erfordern also recht anspruchsvolle schriftsprachliche und strukturierende Kenntnisse und Fertigkeiten, auch die Anpassung des KI-Produkts an die eigene Zielsetzung erfordert eine mehr als basale Literalität. Wer sich ein Geburtstagsgedicht schon alleine unter Google aussuchen lässt, könnte auf Theodor Storms „Am Geburtstage“ stoßen, ein Gedicht zum 40. Geburtstag eines Mannes. Dies fängt zwar nett an, enthält jedoch auch die Zeile „Schon weht ein Lüftchen aus der Gruft …“.
Wer das digitale Produkt aufgrund unzureichender Lese- und Schreibkompetenzen nicht seiner Zielsetzung entsprechend kontrollieren, entscheiden und anpassen kann, läuft Gefahr, wiederum der Blamage oder schlimmerer Diskriminierungssituationen ausgesetzt zu sein.

KI schreibt zwar so schnell wie kein Mensch, aber der Mensch bleibt, denn er macht die Qualitätsabnahme. Damit dies allen Menschen möglich ist, bedarf es der Alphabetisierung und Grundbildung und eben des jährlich wiederkehrenden Weltalphabetisierungstages, der genau dies einfordert!

Dieser Beitrag wurde am 6. September 2023 geschrieben und im November 2023 aktualisiert, da ChatGPT seit Ende September auch auf das Internet zugreift.

Autorin Marion Döbert 2023

Marion Döbert ist Alphabetisierungsexpertin, freiberufliche Journalistin und Autorin. Seit 2013 schreibt sie für den „Spaß am Lesen Verlag“ eigene Romane und Transkriptionen von Klassikern der Weltliteratur in Einfacher Sprache.

Kontakt zur Autorin:

Als Analphabet wird jemand bezeichnet, der nicht lesen und schreiben kann. In Deutschland ist dies sehr selten. Viele Menschen, die Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben, können meist Buchstaben und Wörter lesen, haben aber Probleme mit Texten. Auch weil das Wort „Analphabet“ ausgrenzend ist, sprechen wir besser von „gering literalisierten Personen“. Viele Betroffene bezeichnen sich allerdings selbst manchmal als Analphabeten, weil der Begriff bekannt ist und nicht erklärt werden muss.

„e.V.“ ist die Abkürzung für „eingetragener Verein“ und bezieht sich auf eine bestimmte Rechtsform für Vereine in Deutschland. Ein eingetragener Verein ist eine Organisation, die sich aus einer Gruppe von Menschen zusammensetzt, die gemeinsame Interessen oder Ziele haben.

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